Die Gotik
Zeichnet sich die romanische Architektur durch Nüchternheit und eigenständige Monumentalität aus, so ist das Synonym der Gotik im Gegenteil Leichtigkeit und Vertikalität. Der gebrochene Gewölbebogen, typisches Merkmal der Gotik, erlaubte es den Architekten, höhere und schlankere Konstruktionen zu entwerfen, die im romanischen System massiver Mauern und schwerer Gewölbe nicht möglich waren. Als Geburtsstätte der gotischen Architektur gilt Frankreich, namentlich die Abtei in St.-Denis, deren Rundgang und Hauptfassade in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstanden. Nach Prag kam die gotische Architektur etwa ein Jahrhundert später.
Erster Vertreter der Gotik war insbesondere der Zisterzienserorden, dessen Variante der Gotik sich durch schlichte Formen und Reduktion des Ornaments auszeichnet. Zeuge dieser ersten Welle der Gotik in Prag ist beispielsweise das St.-Agneskloster oder auch die Altneusynagoge. Bemerkenswert ist dabei, dass beide – hinsichtlich der Religion aus verschiedenen Ecken stammenden - Bauwerke wahrscheinlich von derselben Bauhütte realisiert wurden.
Die Hochgotik gelangt ab ca. 1300 nach Prag und ist insbesondere mit der Dynastie der Luxemburger verbunden. Die Ouvertüre zu dieser außergewöhnlichen Zeit ist das Haus Zur Steinernen Glocke (U Kamenného Zvonu) auf dem Altstädter Ring, das unter
der Herrschaft Johannes von Luxemburgs erbaut wurde und als Palais mit höchster Wahrscheinlichkeit der königlichen Familie diente. Der echte Höhepunkt der Prager Gotik ist jedoch die Zeit Karls IV., der nicht nur den Veitsdom sowie eine neue Steinbrücke erbaut, sondern auch die imposante Prager Neustadt, die den größten neu angelegten Stadtkomplex des damaligen gotischen Europa darstellte und deren urbanistische Struktur bis heute erhalten ist. Die Blütezeit Karls IV. endeten schlagartig durch die zerstörerischen Hussitenkriege.
Der letzte und nicht weniger bemerkenswerte Akt der gotischen Architektur in Prag spielte sich nach Ende der Hussitenkriege unter der Herrschaft des Geschlechts der Jagiellonen ab. Die raffiniert gezirkelten Gewölbe des Vladislav-Saales, die gegen Ende des 15. Jahrhunderts von Benedikt Ried erschaffen wurden, übertreffen in ihrer Kühnheit alles, was bis dahin in Prag erbaut wurde. Die klassische Formsprache der Saalfenster, die vom selben Architekten stammen und die ins Jahr 1493 datiert werden, stellt nicht nur einen ersten Widerhall der italienischen Renaissance nördlich der Alpen dar, sondern auch ein erstaunliches Beispiel der einzigartigen und geradezu symbolischen Verbindung zweier gleichwertiger, künstlerisch jedoch absolut entgegengesetzter Welten – der Renaissance und der Gotik.