Der Klassizismus
Leidenschaft wurde abgelöst von aufgeklärter Rationalität, Illusion von Pragmatismus und monumentale Pracht von bewusster Schlichtheit. Im europäischen Kontext besteht die Grundlage des Klassizimus (bzw. Neoklassizismus, wie er in manchen westeuropäischen Ländern auch bezeichnet wird) in der geradezu fieberhaften Bemühung, sich der Antike anzunähern, insbesondere dem antiken Griechenland, das als gesellschaftliches, künstlerisches und kulturelles Ideal galt. Das Bemühen um einen rein wissenschaftlichen Geschichtsansatz war von Anfang an beeinflusst durch den Romantismus von Künstlern und Architekten, was dazu führte, dass sich hinter schlichten klassizistischen Fassaden oftmals reich verzierte Innenräume verbergen, deren Pracht manchmal gar an Bauten des antiken Roms erinnert (hierzulande insbesondere das Schloss Kačina).
In Prag ist der Klassizismus insbesondere mit der Architektur von Wohnhäusern verbunden, die sowohl im Stadtzentrum (Platýz, Smetana-Ufer), als auch beispielsweise in der neu gegründeten Vorstadt Karlín entstanden, deren schachbrettartiger Grundriss direkt auf das Vorbild antiker Städte zurückgeht. Dem städtischen Charakter ordnen sich auch die vereinzelten Adelspalais unter, die bewusst in die Gebäudeblocks integriert sind und so an der „erhabenen Einförmigkeit“ gemäßigter, dabei aber äußerst eindrucksvoller
städtischer Prospekte (Palaiskomplex in der Hybernská-Straße, Palais Desfours in der Neustadt) teilhaben. Der Klassizismus brachte das wichtige Phänomen der öffentlichen Bauten nach Prag und nach Europa allgemein. Das Nostitz-Theater (Ständetheater), das im Jahr 1783 nach Plänen von Anton Haffenecker auf dem Altstädter Früchtemarkt erbaut wurde, zeigt freilich mit seiner dynamischen Portikus sehr gut, dass diese Bauten immer noch vom ausklingenden Barock beeinflusst waren. Die großzügige Hauptfassade des Neustädter Zollhauses (heute Haus "U Hybernů"), die Georg Fischer in den Jahren 1808-11 vor die frühbarocke Kirche der Unbefleckten Empfängnis der Jungfrau Maria setzte, ist dagegen, gleichsam als Echo der fast zeitgleich entstandenen Berliner Münze von Heinrich Gentz, ein bemerkenswerter Beleg des direkten Einflusses zeitgenössischer Trends auf die Prager Architektur. Eine andere Ebene der zeitgenössischen Architektur ist im Statthalter-Lustschloss (Místodržitelský letohrádek) im Prager Park Stromovka zu sehen, dessen Fassade Georg Fischer in den Jahren 1804-05 umbaute. Die auf die schlichte klassizistische Fassade aufgebrachten romantischen gotischen Formen stellen ein erstes und überraschend frühes Beispiel des Historismus in Prag dar, der die hiesige Architektur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beherrschte.