Markantestes Phänomen der europäischen Architektur des 19. Jahrhunderts. Grundlage des Historismus ist die Überzeugung, dass jede Zeit ihren Baustil hat, der an Neubauten angewendet werden kann, wenn der entsprechende Bautypus in der jeweiligen historischen Epoche seinen Höhepunkt erreicht hat. Nach dieser These sollten also Sakralbauten im Stile der Romanik oder der Hochgotik gebaut werden, da diese am besten dem „goldenen Zeitalter“ des Christentums entsprachen, Parlamente wiederum – mit Verweis auf die griechische Demokratie - im Stile der Antike, öffentliche Bauten wie Theater oder Museum im Stile der Renaissance, da gerade die Renaissance die moderne Auffassung von Kunst und Kultur begründete usw. Bestes Beispiel für diese Gliederung ist die Wiener Ringstraße, eine Prachtstraße, die sich um den historischen Stadtkern zieht.
Waren die historisierenden Neubauten in Wien, der Hauptstadt der Habsburger Monarchie, ein Symbol des Aufstiegs des Kaisertums und der österreichischen Kultur, so symbolisierten sie in Prag – dem historischen Haupt des Königreichs Böhmen – in erster Linie den Aufstieg des tschechischen Volkes als solchem. Der Bau einer „Ringstraße“ nach Wiener Muster war in Prag aufgrund der Eigenschaften des Geländes nicht möglich. Gebäude wie das Nationalmuseum und das Nationaltheater wurden so in den historischen urbanistischen Kontext eingebettet, der durch sie verändert und gestärkt wurde. Während das Nationaltheater oder auch das kulturelle Zentrum Rudolfinum der Architekten Josef Zítek und Josef Schulz am Moldauufer erbaut wurden und damit das eindrucksvolle Phänomen der Prager Uferstraßen begründeten, stellt das von Schulz erbaute Nationalmuseum den Höhepunkt und Abschluss
des Wenzelsplatzes dar und machte diesen ursprünglich mittelalterlichen Markt damit symbolisch zu einem modernen Boulevard. Zur gleichen Zeit begann die Fertigstellung des Veitsdomes, der zum sichtbarsten Symbol des wiedergeborenen tschechischen Volkes werden sollte. Besonders an diesem Bau ist auch der problematischste Zug des Historismus zu sehen – der sog. Purismus, dessen Ziel es war, die mittelalterlichen Gebäude von allen späteren Eingriffen aus der Zeit der Renaissance und des Barock zu „reinigen“. Die Begeisterung vieler Architekten, die zur Rettung zahlreicher gotischer und romanischer Bauten beitrug, führte gleichzeitig oft auch zu Schäden an eben diesen Bauten sowie zu einer gewissen Sterilisierung.
Dank der kulturellen und unternehmerischen Aktivität wandelte sich Prag in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer wahren Metropole des böhmischen Königreiches. Der Preis für diesen Aufschwung war der Abriss vieler historischer Gebäude, die durch größere und ertragreichere Neubauten ersetzt wurden. Die Lawine der Mietshäuser, der allein in der Altstadt und in der Judenstadt über 600 mittelalterliche, Renaissance- und Barockhäuser weichen mussten, brachte gleichfalls die größte Vulgarisierung der historisierenden Formsprache, die sich in verschiedensten stilistisch-historischen Kombinationen an die Fassaden der Neubauten klebte. Gerade diese Praxis wurde zur Zielscheibe der Kritik moderner Architekten, die eine einfache, wahrhaftige und zeitgenössische Architektur forderten. Die massive Vulgarisierung historischer Baustile trug somit paradoxerweise zur Herausbildung einer neuen Architektur bei, die um das Jahr 1900 ihren Siegeszug durch Prag und Europa begann.